1980er 1990er 2000er Rückblick 30 Jahre PSZ
Inhalt
1986
Vereinsgründung
Im Rheinland gibt es Asylarbeitskreise, Flüchtlingsräte und ein paar hauptamtliche Flüchtlingsberatungsstellen. Auf Initiative von Karin Asboe, Eberhard Batz und Agda von Walter, Asylarbeitskreis Kaarst, gründen FlüchtlingsberaterInnen, PfarrerInnen und Ehrenamtliche im Sommer 1986 den Verein Psychosoziales Zentrum für ausländische Flüchtlinge e.V.. Ziel ist die Gründung eines PSZ für psychische belastete Flüchtlinge im Einzugsbereich des Regierungsbezirks Düsseldorf.
Zum Gründungsvorstand gehören:
- Eberhard Batz, Gemeindedienst für Weltmission Wuppertal – Vorsitzender
- Nikolaus Schneider, damals Pfarrer in Moers, heute Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland und Ratsvorsitzender der EKD – Stellvertretender Vorsitzender
- Karin Asboe, Diakonisches Werk Rheinland – Schatzmeisterin
- Ingrid Just, Flüchtlingsrat Mülheim/Ruhr – Schriftführerin
- Ulli Caspers, Pfarrer in Kaarst- Beisitzer
- Dr.Erhard Griese, Pfarrer in Düsseldorf – Beisitzer
- Ingrid Haun-Frieling, Evgl. Studentengemeinde Essen – Beisitzerin
- Katja Krikowski-Martin – Lehrerin – Beisitzerin
Sitz des PSZ wird eine Etage im CVJM-Haus, Graf-Adolf-Str. 102, gegenüber des Hauptbahnhofs Düsseldorf sein. Finanzielle Grundlage ist die Kollekte des Abschlußgottesdienstes des Evgl. Kirchentags Düsseldorf 1985.
Erstes Team
Drei Stellen werden eingerichtet zunächst auf ABM (Arbeitsbeschaffungsmaßnahme), später sollen sie zu festen Stellen werden. Sie werden besetzt mit:
- Jean Claude Diallo auf der Psychologenstelle
- Annette Windgasse auf der Sozialarbeitsstelle
- Luzia Höber, später Frau Meyer-Brandt auf der Verwaltungsstelle
Von Anfang ist das Konzept ausgerichtet auf Beratung, Therapie, Sozialarbeit für Flüchtlinge (der Begriff ‚traumatisiert‘ war 1986 noch nicht geläufig) und auf Multiplikatorenarbeit, also Fortbildung, Supervision, Information und Beratung für haupt- und ehrenamtliche FlüchtlingsberaterInnen, für Behördenmitarbeiter und andere Berufsgruppen, die mit Flüchtlingen zu tun haben.
1987
1.April 1987: die ABM-Stellen sind bewilligt, das PSZ beginnt mit der Arbeit.
Juni 1987: offizielle Eröffnungsfeier
1988
176 KlientInnen – Hauptherkunftsländer: Iran, Sri Lanka, Libanon.
Gruppen: Sprach- und Orientierungskurse, Orientierungskurs für Frauen in Mülheim, Berufsorientierter Deutschkurs, Videogruppe, Lern- und Spielgruppe für Flüchtlingskinder, Tamilische Kindergruppe in Essen und in Mülheim, Flüchtlingskindergruppe in Mülheim, Flüchtlingsseminar zum Thema Selbsthilfe
Multiplikatorenarbeit: Praxisbegleitung für Hauptamtliche, Länder-Info-Tage zu Sri Lanka und zu Familiensystem und Krankheitsvorstellungen in Westafrika, Rechtsseminare, Infos zur Abschiebehaft, Frauentagung des AK Flüchtlingsfrauen in Mülheim „Fremdheit und Vertrautheit“.
Praktika: sechs; Praktikumsprojekt zu unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und zur psychiatrischen Versorgung von Flüchtlingen.
- Jean Claude Diallo geht Mitte des Jahres nach Frankfurt zurück, um die Leitung des dortigen PSZ zu übernehmen, nachdem der bisherige Leiter Carlos Corvalan und sein Frau Gaby Corvalan nach Chile zurückgegangen sind.
- Das PSZ Düsseldorf wird um eine Stelle erweitert: Annette Windgasse wird Koordinatorin, auf der Psychologenstelle wird Lamri Lakrache, Systemischer Therapeut aus Algerien, und auf der Sozialarbeitsstelle Joachim Sobotta eingestellt.
1989
Es gibt eine neue Mitarbeiterin: Karin Jeanine Thaler arbeitet im Sekretariat. Joachim Sobotta widmet sich dem Schwerpunkt Kindheit im Exil, im Besonderen dem Thema ‚Unbegleitete Flüchtlingskinder‘.
Das PSZ verzeichnet 283 KlientInnen aus 38 verschiedenen Ländern. Das Hauptherkunftsland ist der Iran.
Folgende Gruppen werden vom PSZ angeboten oder unterstützt: Sprach- und Orientierungskurse für Iraner und Afghanen, Deutschkurs für iranische Eltern, Sprach- und Orientierungskurs für Flüchtlingsfrauen in Mülheim/Ruhr, Sprach- und Orientierungskurs für Flüchtlingsfrauen in Düsseldorf, sowie ein berufsorientierter Sprachkurs mit integrierten Hospitationen. Weiterhin werden vier Kindergruppen angeboten: eine Flüchtlingskindergruppe in Mülheim/Ruhr, eine tamilische und eine afghanische Kindergruppe in Essen, und eine arabische Kinder- und Jugendgruppe in Düsseldorf.
In der MultiplikatorInnenarbeit werden Praxisbegleitungen für hauptamtliche FlüchtlingsberaterInnen und für Asylarbeitskreise angeboten, sowie eine Projektgruppe namens „Kindheit im Exil“ für pädagogische Fachkräfte. Das PSZ veranstaltet Länder-Info-Tage zu den Ländern Maghreb, Iran, Libanon und Türkei.
Außerdem werden Begegnungen und Austausch zwischen Flüchtlingen und Deutschen unterstützt: Eine dreitägige Begegnungstagung unter dem Motto „Füreinander – Miteinander“ wird organisiert. Die jüngere deutsche Geschichte wird mit aktuellen Exilbedingungen in einem zweitägigen Seminar mit dem Thema „Deutsche im Exil 1933 – 1945 / Flüchtlinge im Exil bei uns“ verglichen; Auf Wunsch der Teilnehmenden findet drei Monate später ein Nachtreffen unter dem Thema „3 Tage für uns – Flüchtlingsfrauen und deutsche Frauen auf der Suche nach Gemeinsamkeiten“ statt. Ein Erfahrungsaustausch zwischen verschiedenen Teilnehmern aus dem Flüchtlingshilfebereich wird unter dem Thema „Kinderflüchtlinge“ veranstaltet.
Weiterhin begann das PSZ im Jahr 1989 verstärkt damit, Flüchtlingsselbsthilfegruppen zu unterstützen.
1991
Das neue Ausländergesetz tritt in Kraft. Durch seine Komplexität und die Verschärfung z. B. der Ausweisungsrichtlinien, führt es zu Verunsicherung auf Seiten der Flüchtlingen, wie auch der im Flüchtlingsbereich Tätigen.
Die Angriffe auf eine Asylunterkunft in Hoyerswerda markieren den Beginn einer Welle von Angriffen und Brandanschlägen gegen Flüchtlinge, die leider in weiten Teilen der Bevölkerung auf Zustimmung treffen. Die Politik passt sich der von ihr geschürten Volksstimmung an.
Unter dem Begriff ‚Anpassungsstörung mit vorwiegend emotionaler Symptomatik‘ findet sich erstmals eine traumaverwandte Diagnose im Jahresbericht.
Das PSZ betreut 437 KlientInnen, darunter 12 Kinder und Jugendliche zwischen 3 und 17 Jahren. Das Hauptherkunftsland ist der Iran.
An Gruppen werden angeboten: Sprach- und Orientierungskurse für Iraner und Afghanen (auch von anderen Nationalitäten besucht), Deutsch Intensiv für Flüchtlinge (DIFF); Der ehemalige berufsorientierte Sprachkurs wird zum Berufsprojekt, mit den Schwerpunkten Kennenlernen der Arbeitswelt, Bewerbungstraining, und Einzelberatung nach Bedarf; die Internationale Frauengruppe trifft sich weiter und fährt für Spaß und Erholung für vier Tage nach Herzogenrath – 17 Frauen und 17 Kinder nehmen teil. An Kindergruppen werden eine tamilische und eine afghanische Kindergruppe in Essen, sowie eine internationale Kindergruppe in Wuppertal angeboten.
In der MultiplikatorInnenarbeit geht es hauptsächlich um das neue Ausländer- und Asylrecht, den Auslauf der Abschiebeschutzregelungen und die Umverteilung in die neuen Bundesländer. Weiterhin sind Gewalt gegen Flüchtlinge und der Golfkrieg wichtige Themen. Es werden Praxisbegleitungen für Frauen in der Flüchtlingsarbeit, für mit Kinderflüchtlingen Arbeitende, sowie für den „KOMAK e.V.“ in Wuppertal angeboten, außerdem Praxisbegleitung und Supervision für hauptamtliche FlüchtlingsberaterInnen.
Länder-Info-Tage finden zu Kurdistan und Sri Lanka statt.
1992
Rassistische Angriffe gegen Flüchtlinge bleiben weiter ein wichtiges Thema. Nach Hoyerswerda folgen Überfälle und (Brand)Anschläge unter anderem in Hünxe, Rostock, Solingen und Mölln.
Das PSZ betreut 469 KlientInnen. Die Hauptherkunftsländer sind der Iran und Libanon.
An Gruppen werden angeboten: Deutsch Intensiv für Flüchtlinge, ein internationaler Sprachkurs, ein Sprachkurs für IranerInnen und AfghanInnen. Die Kindergruppen werden weitestgehend als Selbsthilfeprojekte umstrukturiert, und die internationale Kindergruppe wird von der Gemeinde weitergeführt. Die Frauengruppe macht in diesem Jahr einen Kurzurlaub in Mülheim, außerdem werden Treffen mit SchülerInnen zum Deutschlernen organisiert. Ein Autogenes Training mit Frauen wird veranstaltet. Außerdem startet das Mülheimer Containerprojekt: In einem Lager in Mülheim leben ca 200 Menschen in vier Containerzügen, darin zum Teil vier Menschen auf 14 qm², teilweise ohne Waschmaschine und Duschen im Containerzug. Eine Honorarkraft ist täglich vor Ort und dient als Ansprechpartnerin für die BewohnerInnen; Außerdem trägt sie die Anliegen der BewohnerInnen an die Behörden und arbeitet daran, die Lage der Menschen bekannt zu machen. Es werden Angebote für die Kinder geschaffen, zudem wird die Einschulung einiger der Kinder erreicht.
In der MultiplikatorInnenarbeit finden Seminare für LeiterInnen von Schüler- und Hausaufgabenhilfekreisen, sowie Beratung von und Weiterbildungskurse für Ehrenamtliche statt. Das Konzept für einen Lehrgang für HausbetreuerInnen wird erstellt. Eine Veranstaltungsreihe namens Frauen, Flucht und Rassismus wird organisiert. Es wird an der Vernetzung der PSZ in NRW gearbeitet, und gemeinsame Treffen finden statt.
Länder-Info-Tage finden zu Zaire und Eritrea statt.
1993
Es finden weitere Anschläge gegen Asylunterkünfte und Flüchtlinge statt. Gleichzeitig tritt eine Verschärfung des Asylrechts in Kraft, um die Zahl der Asylsuchenden zu senken (Stichwort Asylkompromiss). Das Asylbewerberleistungsgesetz wird eingeführt. Zahlreiche neue Abschiebe(haft)einrichtungen werden eröffnet. Im Zuge dessen verzeichnet das PSZ einen Anstieg der Beratungen. Es werden auch Beratungen in Abschiebehaft durchgeführt.
Das PSZ betreut 592 KlientInnen.
An Gruppen werden angeboten: eine internationale Frauengruppe, ein internationaler Sprachkurs, Autogenes Training mit Frauen, Orientierungsangebot für Flüchtlingsfrauen in Wuppertal, Malen mit eritreischen Frauen in Wuppertal, Gartenprojekt für Menschen im Asylwohnheim Kempen, Kinderprojekt für Kinder in Containerunterbringung in Krefeld. Das Mülheimer Containerprojekt wird fortgeführt.
An Veranstaltungen werden durchgeführt: eine zweiwöchige Bildungsfreizeit in Herzogenrath unter dem Titel „Miteinander statt Gegeneinander“, u. a. mit einem multikulturellem Fest, Diskussionen über Fluchthintergründe, die Lage in Deutschland, Migrationsprobleme, Erziehung, Religion, und Zukunftsperspektiven. Weiterhin findet das Kinderwochenende „Miteinander“ in Wuppertal und ein Wochenendseminar der deutsch-ausländischen Frauengruppe statt.
In der MultiplikatorInnenarbeit werden Praxisbegleitung und Supervision für Flüchtlings-SozialarbeiterInnen, Praxisbegleitung für Frauen in der Flüchtlingsarbeit, praxisbegleitende Supervision für FlüchtlingsberaterInnen, sowie ein MultiplikatorInnenseminar zum Thema Rassismus angeboten.
Länder-Info-Tage finden zu den Themen Libanon, Frauen in Westafrika, und ehemaliges Jugoslawien statt.
1994
Der Begriff der „posttraumatic stress disorder“ (posttraumatische Belastungsstörung) kommt auf.
Die KlientInnenzahl steigt weiter auf 617; Die Hauptherkunftsländer sind Libanon, Iran und Bosnien.
An Gruppen wurden angeboten oder unterstützt: Internationaler Deutschkurs für AnfängerInnen und für Fortgeschrittene; Iranische Frauengruppe; Sprachkurs für tamilische Frauen; sozialpädagogische Begleitung im Sprachkurs für Bosnierinnen; Frauengruppentreffen; Multikulturelle Frauengruppe in Kaarst; Kreatives Gestalten mit eritreischen Frauen in Wuppertal; Sommerferienprogramm für Flüchtlingsfrauen in Wuppertal; Internationale Frauengruppe in Duisburg. Die Frauengruppe in Oberhausen veranstaltete eine Tagung und ein Radioprojekt. An Projekten in Unterkünften fanden statt: Gruppenangebot für Mädchen und Frauen in der Mülheimer AsylbewerberInnenunterkunft Ruhrorter Straße; Bosnische Männer bzw. bosnische Flüchtlinge in Neuss; Containerprojekt Mintarder Straße in Mühlheim/Ruhr.
In der MultiplikatorInnenarbeit wurden die bestehenden Gruppen (Praxisbegleitung für Frauen in der Flüchtlingsarbeit und praxisbegleitende Supervision für FlüchtlingsberaterInnen) fortgesetzt. Außerdem wurden zwei zusätzliche Angebote geschaffen: praxisbegleitende Supervisionsgruppe für SozialarbeiterInnen aus dem ehemaligen Jugoslawien, sowie Praxisbegleitung für SozialarbeiterInnen in kommunaler Anstellung.
Zusätzlich wurde an einer Vernetzung muttersprachlicher Fachkräfte aus dem ehemaligen Jugoslawien gearbeitet.
Länder-Info-Tage wurden zu folgenden Themen veranstaltet: Sozialarbeit in Bosnien, Therapeutische Arbeit mit bosnischen Flüchtlingen, Identität und Verwirrung (ehemaliges Jugoslawien), Eritrea – ein Jahr Unabhängigkeit, Flüchtlingslager in Kroatien, Kosovo.
In Zusammenarbeit mit der RAA wurde eine Veranstaltungsreihe zu Flüchtlingskindern aus Ex-Jugoslawien organisiert.
Außerdem fand eine Bundesfachtagung der PSZ zum Thema „Identität, Kultur und Trauma“ statt.
1995
Das PSZ wird von 843 Klienten aus 45 Ländern besucht, darunter sind besonders viele Bosnier, Iraner und Kurden.
An Gruppen werden angeboten: Iranische Frauengruppe, Autogenes Training für iranische Frauen, Sprach- und Orientierungskurs für tamilische Frauen, Sprach- und Orientierungskurs am Vormittag, Sprach- und Orientierungskurs am Nachmittag, Deutschkurs für Bosnierinnen mit sozialpädagogischer Begleitung, Gesprächskreis für bosnische Flüchtlinge, Sozialarbeit im Containerlager Mülheim, Gruppenberatungen in den Abschiebehaftanstalten in Wuppertal und Düsseldorf.
Einige lokale Projekte werden weiter unterstützt: Eritreische Frauengruppe in Wuppertal (Kreatives Gestalten), Internationale Frauengruppe in Duisburg (ein Familienausflug wird veranstaltet), Flüchtlingsfrauengruppe Oberhausen (ein Wochenendseminar wird organisiert), Flüchtlingsfrauen-Café „International“, und die Roma-Jugend Theatergruppe „Cingarol O Basno“.
180 Personen nehmen am Newroz-Fest im PSZ statt, dass von kurdischen, iranischen und afghanischen Frauen organisiert wurde.
In der MultiplikatorInnenarbeit finden statt: Supervision für hauptamtliche Flüchtlingsberaterinnen, Praxisbegleitung für Frauen in der Flüchtlingsarbeit, Supervision für FlüchtlingsberaterInnen aus dem ehemaligen Jugoslawien; sowie Supervision, Information und Beratung für Haupt- und Ehrenamtliche im Flüchtlingsbereich.
Das PSZ ist außerdem in folgenden Arbeitsgemeinschaften und Gremien vertreten: Arbeitsgemeinschaft der Flüchtlingsberatungsstellen Düsseldorf, Betreuungsgruppe Abschiebehaft Wuppertal und Düsseldorf, Treffen der hauptamtlichen FlüchtlingsberaterInnen beim Diakonischen Werk, Arbeitskreis Abschiebehaft des Flüchtlingsrates NRW, Koordinierungsausschuss der PSZ beim Diakonischen Werk, Arbeitskreis Therapie der PSZ beim Diakonischen Werk.
In der Öffentlichkeitsarbeit wird eine Pressefahrt organisiert, die das PSZ vorstellt und insbesondere die Bedingungen in der Abschiebehaft verdeutlicht. Zum Tag des Flüchtlings werden Informationsstände auf der Straße besetzt.
Die BAFF (Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer) wird gegründet.
1999
Das CVJM-Haus soll umgebaut werden, das PSZ sucht eine neue Bleibe und findet sie in Räumen der Evangelischen Beratungsstelle für Ehe-, Lebens- und Erziehungsfragen in der Benrather Str.7 in der Düsseldorfer Altstadt direkt am Markt Carlsplatz. Da die Räume so gut passen, und die Altstadt eine freundlichere und sicherere Umgebung darstellt als der Hauptbahnhof, wird beschlossen: Das PSZ bleibt hier.
Viele albanische Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Kosovo finden Zuflucht in Deutschland. Ein Programm zur Psychosozialen Versorgung wird ausgeschreben, an dem sich das PSZ in Kooperation mit dem Behandlungszentrum in Köln beteiligt. In den Aufnahmeeinrichtungen werden Stabilisierungsgruppen und Therapieangebote für die kosovarischen Flüchtlinge eingerichtet. Auf viele Jahre hinaus werden KosovarInnen die größte KlientInnengruppe im PSZ darstellen.
Intern macht das PSZ von 1999 bis 2001 eine turbulente Phase durch.
2000
Joachim Sobotta wechselt zur Evgl. Beratungsstelle, ihm folgt Ksenja Selinsek als Sozialarbeiterin.
2001
Ein Phase grundlegender Umstrukturierung setzt ein. Abduljawad Aycha macht sich als Psychotherapeut selbständig, Cinur Ghaderi und Eva van Keuk teilen sich ab September die Psychologenstelle. Es wird ein neuer Vorstand gewählt, der ab 1.1.2002 amtiert:
- Gerhard Gericke, früherer Stadtsuperintendent von Düsseldorf wird Vorsitzender
- Friedhelm Meyer, früherer Pfarrer von Düsseldorf-Garath sein Stellvertreter
- Corrie Voigtmann, Flüchtlingsberaterin wird Schatzmeisterin
- Günter Nierstenhöfer aus Herne Schriftführer
- BeisitzerInnen werden:
- Ingrid Frechenhäuser-Mainz aus Wuppertal
- Michael Heim, Rechtsanwalt aus Düsseldorf
2002
Das PSZ feiert 15-jähriges Jubiläum und neue Kolleginnen kommen dazu:
- Esther Mujawayo-Keiner
- Sabine Rauch, die stellvertretende Leiterin wird
- Sari Serdani
- Stefanie Adrian
Bereits beschäftigt sind:
- Eva van Keuk, die für ein Jahr Leiterin des psychologisch-psychotherapeutischen Bereichs wird
- Cinur Ghaderi
- Karin Thaler und Margaryta Kats in der Verwaltung
- Annette Windgasse, die Leiterin des PSZ wird.
Auch der Vorstand ändert sich und das PSZ besteht plötzlich aus doppelt so vielen Fachkräften wie im Jahr zuvor. Nicht nur die Behandlungsmöglichkeiten steigen dadurch, auch der interne Bedarf nach Strukturierung steigt. Insgesamt werden 236 Klienten behandelt/betreut. Die Bosnischen Klienten bilden in diesem Jahr den größten Anteil im PSZ, gefolgt von Personen aus dem Kosovo, dem Kongo und der Türkei. Neben dem therapeutischen Angebot und den verschiedenen Gruppen wird außerdem ein Orientierungsmodul angeboten mit dem Thema „Umgang mit Behörden“. Die Multiplikatorenarbeit beinhaltet nach wie vor Fortbildungen, diverse Schulungen und den Versand von Informationsmaterial. Auch Supervisionen werden angeboten. Im Jahr 2002 ist das PSZ wiederholt im Fernsehen vertreten (WDR).
2003
Im Jahr 2003 werden 296 Flüchtlinge vom PSZ betreut, davon 119 neue Zugänge (unter ihnen 63 minderjährige Personen). Hauptherkunftsländer: Kosovo, Russische Föderation, Türkei, DR Kongo und Iran.
Clearinggespräche werden neu eingeführt, um auch für Flüchtlinge, die das PSZ nicht weiterbegleiten kann, für eine bessere Weichenstellung zu sorgen. Das EFF-Projekt „Multimodale Ansätze in der Traumatherapie“ ermöglicht es, verschiedene Gruppen anzubieten: Gesprächstherapie, Kunsttherapie, Qi-Gong, Tanz- und Bewegungstherapie. Ein EMDR-Ausbildungszyklus Rapid Eyemovement Desensitization) wird begonnen. Cinur Ghaderi entwickelt eine multilinguale NAWA CD mit Informationen zur PTBS sowie Entspannungsübungen für Betroffene und deren Angehörige und Freunde. Um die Sprach- und Kulturmittler gut zu schulen, finden im PSZ regelmäßig Fortbildungen statt, und es wird erstmalig ein „Dolmetscher-Pool“ eingerichtet. Zur Multiplikatorenarbeit zählen Telefonberatungen sowie der Versand von Informationsmaterial. Auch Infoveranstaltungen werden organisiert sowie Fortbildungen für Behördenpersonal und MitarbeiterInnen aus der medizinischen Regelversorgung und dem Gericht. PSZ-MitarbeiterInnen sind auf verschiedensten Tagungen und Fortbildungen unterwegs als Referenten oder Audienz??. Intern wird an einem Projektvorschlag für minderjährige Flüchtlinge gefeilt, das dann im Jahr 2004 beantragt wird (Mut&Co). Die Öffentlichkeitsarbeit besteht aus Auftritten im Radio (1live), im Fernsehen (WDR) und der Zeitung (Süddeutsche). Neue Logos und eine Website werden geplant.
2004
346 KlientInnen suchen das PSZ auf, durchschnittlich werden 10 Personen pro Tag betreut. Immer mehr Personen kommen aus dem Kosovo, so wird eine therapeutisch orientierte Gruppe für kosovarische Frauen angeboten. Auch Klienten aus Ruanda, vermutlich bedingt durch den 10.Jahrestag des Genozids, benötigen wieder vermehrt Hilfe und Unterstützung. Haupterkunftsländer: Kosovo, Türkei und Iran.
Es gibt eine therapeutisch begleitete Selbsthilfegruppe für bosnische Frauen sowie eine therapeutische Gruppe für kurdische Frauen und eine für Frauen aus dem Kosovo. Auch Sprachkurse werden weiterhin angeboten. Drei Ergotherapeuten betreuen intensiv einige Klienten und veröffentlichen ihre Ergebnisse in ihrer Abschlussarbeit („Wieder Leben Lernen“).
Nachdem deutlich wird, wie viele Jugendliche die Hilfe vom PSZ benötigen, wird bei Aktion Mensch ein Projekt beantragt – Mut & Co – das neben muttersprachlicher Begleitung für jugendliche Flüchtlinge auch die Kooperation bei Flüchtlingsarbeit mit der Jugendhilfe stärken soll. Die Jugendlichen werden durch muttersprachliche MentorInnen intensiv begleitet.
Das PSZ wird in diesem Zusammenhang als Träger der freien Jugendhilfe (§75 SGB) anerkannt. Auch das CD Projekt NAWA läuft wieder heiß. Die CD wird in vier weitere Sprachen übersetzt – die Anfrage ist hoch.
Die Multiplikatorenarbeit umfasst das Planen gemeinsamer Projekte mit anderen Trägern sowie auch den internationalen Austausch mit anderen Organisationen (Äthiopien, Frankreich, Kurdistan, Irak). Auch werden Supervisionen angeboten sowie Schulungen für Ärzte, Therapeuten, Dolmetscher und erstmalig auch für Rechtsanwälte. PSZ-Mitarbeiterinnen fungieren als Referenten bei diversen Tagungen und auch Öffentlichkeitsarbeit wird aktiv betrieben. Infostände und Straßentheater seinen zu erwähnen, wie auch der Auftritt des PSZ in der internationalen Presse (Japan, Frankreich). Die Projekte „Vera“ (Verbesserung und Erweiterung der Angebote an Therapie für traumatisierte Flüchtlinge) oder der „Therapieverbund für traumatisierte Flüchtlinge“ werden fortgeführt. Diversity Training im Rahmen des RQUAL-Projekts Transspuk, soll die transkulturelle Qualifizierung für Gesundheitsberufe und Soziale Berufe ermöglichen. Esther Mujawayo veröffentlicht ihr Buch „Sur Vivantes“. Das Team erweitert sich um die Sozialpädagogin und systemische Familien- und Sozialtherapeutin Dima Zito und Stefanie Adrian als Büroassistentin.
2005
Eva van Keuk übernimmt die Leitung des Psychologisch-Psychotherapeutischen Bereichs im Juli 2005. Auf Grund der vielen sich an das PSZ wendenden Klienten, dieses Jahr sind es 392 an der Zahl, werden neben Einzeltherapien viele verschiedene Gruppen angeboten. Die steigende Anzahl von Klienten aus dem Kongo führt dazu, dass es neben der therapeutischen Gruppe für bosnische Frauen nun auch eine Gruppe für afrikanische und eine für eritreische Frauen gibt. Da der Kosovo jedoch immer noch die meisten Klienten mit sich bringt, werden zwei Therapiegruppen für kosovarische Frauen angeboten. Außerdem: Sprach- und Orientierungskurs für Frauen, EDV Kurs für Jugendliche und ein Jugendtreffen.
Das Projekt Mut&Co führt dazu, dass es immer mehr jugendliche Klienten gibt. Das Haus wird bunter und lebhafter. Die steigende Anzahl an interessierten Praktikanten hilft unter anderem dabei, den großen Bedarf an Deutschnachhilfe der Jüngeren zu tilgen. Im Jahr 2005 wird neben einer neuen systemischen Familientherapeutin auch eine neue Kunsttherapeutin sowie eine zusätzliche Sozialpädagogin beschäftigt.‘ Die NAWA-CD, die im Jahr zuvor in mehrere neue Sprachen übersetzt wurde wird nun veröffentlicht.‘ Neben den Schulungen für Beamte und Personen im Rechtsbereich und Gesundheitswesen werden nun auch besonders die Fachkräfte der Jugend- und Sozialarbeit zu Fortbildungen ins PSZ geladen. Die Projekte „Mut&Co“, „Therapieverbund für traumatisierte Flüchtlinge“ und „P&S – Soziale Arbeit für psychische Stabilisierung“ laufen fort, bzw. werden in diesem Jahr abgeschlossen. Im Diversity Training (EQUAL) wird eine 12-monatige Fortbildung für Fachkräfte aus dem Gesundheitswesen angeboten.
2006
Neue MItarbeiterInnen im PSZ: Barbara Eßer,(Ethnologin M.A.,Flüchtlings- und Verfahrensberaterin),die Verantwortung in den Bereichen Projektarbeit, Flüchtlingssozialarbeit, Verfahrensberatung und Einsatz von Ehrenamtlichen übernimmt, und Anja Baumann, Psychologin, Verhaltenstherapeutin, die sich 2011 selbstständig machen wird und Monika König in der Verwaltung.
Durch die guten Russischkenntnisse von Barbara Eßer nimmt die Anzahl der Klienten aus der Russischen Föderation erheblich zu.
Insgsamt werden die minderjährigen Flüchtlinge, die das PSZ aufsuchen, immer mehr und sie sind jünger (ihr Altersdurchschnitt liegt zwischen 15-18 Jahren). Die Jugendarbeit wird daher immer zentraler und es entwickeln sich neue Ideen und Projekte. Ressourcen sollen gestärkt werden. Kunsttherapeutische Angebote, Ergotherapie und Sprachkurse und Therapiegruppen sowie individuelle Betreuung finden weiterhin im PSZ statt. Die Therapiegruppe Bosnischer Frauen verselbstständigt sich und wird zu einer funktionierenden Selbsthilfegruppe. Eine Kosmetikerin bietet ehrenamtlich Pflege an, die von einigen Klientinnen erfreut wahrgenommen wird. Des Weiteren werden Wochenendreisen für kosovarische Frauen mit ihren Kindern, wie auch Ausflüge mit der Möglichkeit therapeutisches Reiten auszuprobieren, organisiert.
Um speziell den Jugendlichen Hilfe zukommen zu lassen, werden Mentoren/innen ins Leben gerufen, die individuell die jüngeren Klienten begleiten und unterstützen. Neben der Jugendgruppe gibt es nun auch ein Theaterprojekt, das so beliebt ist, dass es auch 2007 noch weiter existieren wird. Sogar die Betreuung von abgeschobenen Patienten im Ausland wird versucht. In der Multiplikatorenarbeit werden die Beziehungen zum Gesundheitswesen intensiviert und verbessert. Das PSZ kooperiert regelmäßig mit der Ärzte- und Psychotherapeutenkammer und bietet Fortbildung zur Begutachtung an. Auch zu der Deutschen Gesellschaft für Psychotraumatologie wird vermehrt Kontakt gehalten. Als größtes Projekt in diesem Bereich kann im Jahr 2006 das Diversity Training für Fachpersonal im Gesundheits& und Sozialbereich gesehen werden. Netzwerkarbeit wird besonders mit der Jugendhilfe intensiviert. Die NAWA-CD wird nun auch verschriftlicht und an Klienten ausgegeben. Neu sind das Theater Projekt für die Jugendlichen wie auch das Projekt „Must“ (ein Projekt zur Unterstützung von Müttern).
2007
Das PSZ wird 20!
409 Fälle in diesem Jubiläumsjahr, 86 davon Neuzugänge. Immer mehr Klienten kommen aus dem Kongo und Äthiopien. Das PSZ überlegt aufgrund der vielen belasteten Eltern im Jahr 2008 eine Kindergruppe zu gründen. Außerdem wird eine neue Therapiemethode eingeführt: CIPOS (Constant Installation of positive Orientation). Die Methode soll Reorientierung in der Wirklichkeit während eines therapeutischen Gesprächs unterstützen.
Gruppenarbeit: Laufgruppe für Männer durch einen Ehrenamtlichen, Spaziergehgruppe für Fauen, nach wie vor die Jugendgruppe, eine Mädchengruppe, die kosovarische Frauengruppe. Im Projekt NOUR, das mit anderen Mitgliedern des AK Flüchtlingsfrauen durchgeführt wird, wird eine ressourcenorientierte Frauengruppe aufgebaut (Empowerment Gruppe für Flüchtlingsfrauen). Für die Jugendlichen laufen zwei Theaterprojekte (Zwischenwelten und Diakonie Gottesdiest). Die Mitglieder der Mädchen- und der Jugendgruppe verbringen außerdem separat jeweils zwei Wochenenden miteinander. Highlights im Jahr 2007 sind der 1.Kongress transkultureller Psychiatrie, der durch das PSZ mitorganisiert und durch Fachbeiträge bereichert wird. Auch die internationalen Kontakte werden gepflegt: Vier PsychologInnenen aus dem Kosovo hospitieren für einige Wochen im PSZ, aus der Russischen Föderation kommen Fachkräfte zu einem Besuch. Außerdem wird ein Austausch mit einer Organsiation in Paris organisiert. Auch wird in verschiedensten Ländern von Mitgliedern des PSZ referiert (Bsp. Kurdistan, Moskau, Italien).
Vor 30 Jahren: „Was Flüchtlinge krank macht“
Aus dem Jahresbericht 1987 des PSZ Düsseldorf, Annette Windgasse
Vergleichen wir die Biographien und die Lebensbedingungen von Flüchtlingen mit verschiedenen psychologischen Erklärungsansätzen für das Entstehen von Krankheiten, erscheint die Antwort sehr einfach und Krankheit für Flüchtlinge wohl unausweichlich. So listet zum Beispiel die “life event Forschung“ Belastungsfaktoren auf, die Erkrankung erwarten lassen: von etwa vierzig krankheitsauslösenden Lebensereignissen haben Flüchtlinge in der Regel etwa fünfundzwanzig durchmachen müssen und zwar die, die in der Skala ganz oben stehen, wie z.B. Verlust eines nahen Angehörigen, Veränderungen in den Lebensverhältnissen, Umzug, Verlust des Arbeitsplatzes usw. Um aber zu verstehen, was Flüchtlinge krank macht, ist mehr und anderes nötig, als die Aufzählung von Lebenskrisen und Belastungen.
Wir wollen einige, uns zentral erscheinende Prozesse beschreiben, müssen aber vorher noch etwas zum Begriff “Krankheit“ sagen. Ist jemand krank, so bedeutet das für ihn einmal Leiden unter bestimmten Symptomen, zum anderen bedeutet das für ihn und seine gesellschaftliche Umwelt die Unfähigkeit, bestimmte Anforderungen zu erfüllen. Wird jemand als psychisch krank bezeichnet, so sind die Kriterien, nach denen sein Verhalten als auffällig gekennzeichnet wird und die Erwartungen und Anforderungen in weit höherem Maß von der jeweiligen Gesellschaft und Kultur abhängig als bei körperlichen Krankheiten. Wenn wir Menschen aus anderen Kulturkreisen begegnen, sollte die Bedeutung der kulturellen Unterschiede, die Relativität von Begriffen wie “gesund und krank“, “normal und unnormal“ selbstverständlich sein. Aber auch allein im Blick auf die eigene Gesellschaft sehen wir Verhältnisse, die solche Begriffe fragwürdig werden lassen, Verhältnisse, die sogenannte kranke Reaktionen als geradezu normal, vielleicht sogar als eigentlich gesund erscheinen ließen, wenn sie nicht mit individuellem Leiden verbunden wären. Die Flüchtlinge, um die es hier geht, sind sicherlich nicht gesund, wenn man, wie die WHO, Gesundheit versteht als den Zustand psychischen, sozialen und physischen Wohlbefindens. Sie haben schwere Kränkungen erlebt, sie haben viele Probleme, unter denen sie leiden: Sie als “krank“ zu definieren, ist problematisch.
1. Kränkung: Opposition, Verfolgung, Flucht
Die erste Kränkung passiert im Herkunftsland:
durch ein unterdrückerisches Regime,
durch Kriegszustände, die ein friedliches Leben zerstören,
durch Angriffe paramilitärischer Organisationen, vor denen der Staat einen Teil seiner Bürger nicht schützen kann oder will,
durch Eingriffe in die Freiheit von z.B. religiösen oder ethnischen Minderheiten,
durch die totale Einengung von Frauen,
oder auch dadurch, daß das Land seine Bürger nicht ernähren kann.
Ein Teil der Flüchtlinge hat dagegen opponiert und sich dadurch politischer Verfolgung ausgesetzt, Inhaftierung, manchmal auch Folter, erleben müssen. Andere haben die Flucht ergriffen, sobald klar wurde, daß ein Leben unter solchen Bedingungen nicht mehr möglich war. Flucht bedeutet für alle die Trennung von Familie und Freunden, Beruf und Besitz, von der vertrauten Umgebung und alltäglichen Gewohnheiten.
Dazu kommen die Gefahren des Fluchtweges und die Unsicherheit über das, was einen erwartet. Die Erfahrung von Trennung und Verlust und das Erleben von Angst und Unsicherheit bringen alle Flüchtlinge mit. Die Erleichterung, die viele nach der Ankunft hier empfinden, hält nicht vor. Die Verarbeitung der Trennung, das Trauern ist ein notwendiger Prozeß. Dem Raum zu geben und dabei Unterstützung zu finden, ist schwer, wenn man an die Zustände in Übergangslagern und Gemeinschaftsunterkünften denkt oder an die Fragen eines Rechtsanwalts oder Beamten nach Verfolgungstatbeständen oder Fluchtgründen.
Flüchtlinge haben sich aber nicht nur von ihnen nahestehenden Menschen und ihrer vertrauten Umgebung getrennt. Sie haben auch ihre eigene soziale Identität verloren, ihren gesellschaftlichen Status, ihre Rollen als Familienmitglied, Nachbar, Kollege, Staatsbürger. Dieser erzwungene Verlust führt zur Orientierungslosigkeit, es ist unklar, welche Rollen die Aufnahmegesellschaft für den Flüchtling bereit hält, welches Verhalten in welcher Situation erwartet wird, wie die Reaktionen der Deutschen und auch der anderen Flüchtlinge zu interpretieren sind.
Ein Reisender oder freiwillig Auswandernder kann diese Situation positiv als Herausforderung verstehen, ein Flüchtling kommt unfreiwillig, mit schmerzlichen Erfahrungen, oft ohne Vorstellungen über das, was ihn erwartet, die Entscheidungen über seine Zukunft liegen nicht bei ihm.
2. Kränkung: “Asylant“ werden
Die zweite Kränkung geschieht hier: es ist die Erfahrung, hier nur als “Asylant“ wahrgenommen zu werden, d.h. im günstigeren Fall als Hilfsbedürftiger, im schlimmeren, häufigeren Fall als unerwünschter Eindringling, als Schmarotzer. Damit wird die erlebte Trennung besiegelt, die persönlich erlittene Trennungserfahrung wird zur Zuweisung einer neuen gesellschaftlichen Rolle, zu einem neuen Status und der des “Asylanten“, ist in unserer Gesellschaft ganz unten angesiedelt.
Wir haben jetzt zweimal den Begriff “Asylant“ benutzt, den wir ansonsten vermeiden. Dieser Begriff beinhaltet nämlich genau diese Reduzierung einer Persönlichkeit auf den Zweck ihres Hierseins und ignoriert den Lebenszusammenhang, aus dem dieser Mensch geflohen ist. Im Begriff “Flüchtling“ klingt dieser Zusammenhang noch mit.
Zum “Asylantenstatus“ gehören Zwangsunterbringung, Begrenzung des Aufenthaltsbereiches, Arbeitsverbot, Abhängigkeit von Sozialhilfe, provisorisches Aufenthaltsrecht, Warten auf die Asylentscheidung. Dies sind auch die Bedingungen, die meist den ersten Kontakt zwischen Flüchtlingen und Flüchtlingsbetreuern bewirken. Und die Kommunikation zwischen beiden wird davon geprägt: die Rollen sind von Anfang an festgelegt, der Flüchtling als der Hilflose, Unterstützungsbedürftige, der Deutsche als Betreuer, Experte, Anwalt des Flüchtlings gegenüber den Behörden, aber auch oft als Repräsentant dieser Behörden gegenüber dem Flüchtling.
Ein wirksamer Nebeneffekt der zunehmend restriktiveren Asylpolitik: die, die dagegen sind, sind vollauf damit beschäftigt, auf dem Laufenden zu bleiben und die Konsequenzen für einzelne Flüchtlinge abzumildern. Zeit und Kraft für eine Opposition als Lobbyarbeit für Flüchtlinge und für eine Auseinandersetzung mit den Ursachen von Fluchtbewegungen und der Ausländerfeindlichkeit bleibt wenig. Zum Glück gibt es aber auch den umgekehrten Effekt: Menschen, die angefangen haben, einzelnen Flüchtlingen zu helfen, erkennen bald die Grenzen der individuellen Hilfsmöglichkeiten und sehen die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zunehmend kritischer.
Flüchtlinge werden zu “Asylanten“ gemacht durch
Sammelunterbringung, das heißt miese Lebensbedingungen und gleichzeitig Ghettoisierung,
Arbeitsverbot, das heißt materielle Not und sinnlos verbrachte Tage und gleichzeitig Ausschluß aus einem zentralen Bereich dieser Gesellschaft,
zahlreiche Reglementierungen, das heißt Einschränkungen der persönlichen Freiheit und gleichzeitig verwaltetes Objekt zu werden.
Der Flüchtling erlebt die Reduzierung seiner Persönlichkeit durch die Einschränkungen seiner Handlungsmöglichkeiten. Von der deutschen Gesellschaft, selbst von denen, die näheren Kontakt mit ihm haben, wird er meist erst gar nicht als Persönlichkeit mit einer eigenen Geschichte, vielfältigen Erfahrungen, Fähigkeiten und Bedürfnissen wahrgenommen.
Was für den einzelnen Flüchtling gilt, gilt erst recht für die Flüchtlingsgemeinschaft. Flüchtlinge werden je nach Einstellung der Deutschen entweder als amorphe Masse wahrgenommen – der “Asylantenstrom“ – oder als einzelne “Fälle“. Daß Flucht und Exil eine Tatsache ist, die ein ganzes Volk betrifft, daß es für die Gruppe der Exilierten wie für jeden einzelnen von ihnen wichtig und notwendig ist, im Exil eine differenzierte Flüchtlingsgemeinschaft zu entwickeln, wird oft außer Acht gelassen.
3. Kränkung: Fremder sein
Die dritte Kränkung erleben Flüchtlinge in der Auseinandersetzung mit der ihnen fremden Kultur des Aufnahmelands.
Dies fängt bei den einfachen, alltäglichen Begegnungen an, wenn man sich z.B. unsicher fühlt, wann man jemandem bei der Begrüßung die Hand reicht und wann nicht. Es setzt sich fort, wenn die Kinder in der Schule für Verhalten belohnt werden, das man selbst nicht billigt. Der Unterschied wird gravierend, wenn die Verwirklichung eigener zentraler Werte unmöglich wird: wenn es z.B. niemand verstehen will, daß man zur Beerdigung der Mutter fahren muß, auch wenn dies ein Weg von 4000 Kilometern ist. Oder daß es doch selbstverständlich ist, daß man auch von der Sozialhilfe noch Geld abzweigen muß, um die Leute zuhause zu unterstützen.
Die Spannung zwischen erlernter und mitgebrachter Kultur und der des Aufnahmelandes kann zum Entstehen von Krankheiten beitragen. Allgemeine Kenntnisse über die Herkunftskultur von Flüchtlingen erleichtern uns das Verstehen, sie reichen aber nicht aus, um Krankheit zu erklären. Der Sozialstatus, die Herkunftsregion, Alter, Geschlecht, individuelle Verarbeitungsmöglichkeiten sind nur einige der Faktoren, die das Erleben der Fremde beim einzelnen Flüchtling prägen.
Erlernte Problemlösungswege können unter Exilbedingungen erfolgreich sein, sie können aber auch völlig unangemessen sein. Verhalten, das zuhause als erfolgreich und “normal“ galt, kann hier zum Mißerfolg führen und als krankhaft angesehen werden. Andererseits kann hier Verhalten gefordert werden, das im Herkunftsland als anstößig, erniedrigend, “unnormal“ gilt.
Schwierig ist es fast immer, als Fremder zu leben. Krankmachend kann diese Situation werden, wenn das Leben in der Fremde unfreiwillig und unausweichlich ist und wenn die Mehrheitsgesellschaft die Minderheitsgesellschaft nicht toleriert, ihre Entfaltung behindert, ihre Werte diskriminiert.
Fallbeispiel: Mahmud T.
Wie die beschriebenen drei Kränkungsprozesse in der Realität eines Flüchtlings zum Tragen kommen, wollen wir am Beispiel eines unserer Klienten aufzeigen:
Mahmud T. ist ein vierzigjähriger Iraner, der mit seiner Frau und seinen drei Kindern seit einem Jahr als Asylbewerber in der BRD lebt. Er kam zu uns, weil er unter körperlichen und psychischen Folgen der Folter leidet, der er im Iran ausgesetzt war.
Je näher wir Mahmud kennenlernten, desto deutlicher wurde, daß die Folterfolgen nur eines der Probleme sind, die ihn belasten, vielleicht sind sie das Auffälligste, am leichtesten Beschreibbare. Die weiteren Kränkungen des Fluchtprozesses fügen dem aber neue Probleme hinzu und behindern zusätzlich die Verarbeitung der vorausgegangenen. Wie erlebte Mahmud die beschriebenen Kränkungen?
1. Opposition, Verfolgung, Flucht
Als Schahgegner sah er seine Hoffnungen auf eine Änderung durch die Revolution enttäuscht. Er schloß sich den Volksmodjahedin an, verteilte Flugblätter, klebte Plakate, nahm an Demonstrationen teil. Als Angehöriger einer relativ wohlhabenden Familie hatte er sich mit seiner Frau eine gesicherte Existenz aufgebaut.
Als er anläßlich einer Demonstration verhaftet und einen Monat lang inhaftiert wurde, wurde diese gesicherte Existenz zerstört. Er kam durch Bestechung frei, konnte es jedoch nicht wagen, nach Hause zurückzukehren. Seine Familie bot ihm Unterschlupf in einer anderen Stadt. Nachforschungen durch Revolutionswächter gefährdeten seine Familie und ihn selbst. Er konnte die Flucht über die Türkei nach Berlin organisieren. Er konnte nicht verhindern, daß seine Schwester seitdem unter Druck gesetzt wird, er konnte es nicht ermöglichen, seinen Vater vor dessen Tod noch einmal zu sehen, er konnte sich nicht von seiner Mutter verabschieden. Die Erinnerung daran bringt ihn zum Weinen, jetzt erst, dann während der Flucht und in der ersten Zeit hier war es ihm nicht möglich, diese Trauer zuzulassen. Er leidet auch unter dem Gedanken, seine Frau und seine Kinder durch seine politischen Aktivitäten aus ihrem Leben herausgerissen zu haben und seinem ältesten Sohn durch den Anblick seines gefolterten Körpers einen schweren Schock versetzt zu haben. Er hat noch Glück gehabt: er lebt in Sicherheit, sein Bruder kümmert sich um sein Geschäft, er kann brieflich Kontakt zu seinen Angehörigen halten. Und er weiß, wofür er ins Exil gegangen ist, er setzt seine politische Tätigkeit hier fort.
2. “Asylant“ werden
Mahmud lebt als Asylbewerber in einer relativ erträglichen Wohnung. Den Reglementierungen des Asylverfahrensgesetzes versucht er mit großer Beflissenheit nachzukommen. Er hat die Rolle “Asylbewerber“ voll übernommen: So widmet er einen Großteil seiner Zeit und Energie den Gängen zur Ausländerbehörde, um die Erlaubnis zum vorübergehenden Verlassen des Aufenthaltsbereiches zu bekommen, er geht zu Flüchtlingsberatungsstellen und zum Sozialamt und läßt sich bereitwillig zum xten Mal über seine besonderen Probleme befragen, die einen Umzug in eine ruhigere Wohnung rechtfertigen könnten, in der er, der unter starken Schlafstörungen leidet, vielleicht einmal durchschlafen könnte. Er ist kooperativ, spielt mit, verhält sich so, wie er glaubt, daß seine deutschen Gesprächspartner, die über ihn entscheiden, die Hilfe geben oder verweigern können, es von ihm erwarten. Seine Dankbarkeit für jede Art von Hilfe äußert er überschwänglich. Dies mag sowohl der Ausdruck iranischer Höflichkeit sein, wie auch Anzeichen für das Ausmaß der von ihm empfundenen Hilflosigkeit gegenüber dem Gestrüpp bundesdeutscher Paragraphen, Verfahrensbestimmungen und Reglementierungen.
3. Fremder sein
Nur einmal haben wir Mahmud ungeduldig werden sehen. Das war, als ihm klar wurde, wie schwierig es ist, daß sein Neffe, der als Asylbewerber in einem anderen Bundesland lebt, in seine Nähe ziehen darf. Da wurden seine Verzweiflung und seine Wut für kurze Zeit sichtbar. Der Widerspruch zwischen Mahmud, der als Onkel seine Pflicht tut, der es der Schwester schuldig ist, für deren Sohn zu sorgen, der den Wunsch hat, einen nahen Verwandten bei sich zu haben und Mahmud, dem Asylbewerber, der höchstens beantragen, kaum fordern und erst recht nicht entscheiden darf, wurde deutlich.
Iranisches Wertsystem, hier bezogen auf gegenseitige Verpflichtungen in der Familie, und deutsche Verwaltungsvorschriften stehen einander gegenüber. Es zählt kaum, daß dieses iranische Wertsystem Ergebnis einer alten Kultur ist und auch jetzt noch eine zentrale Bedeutung für Menschen hat, die unter Exilbedingungen eher noch zunimmt. Verwaltungsvorschriften nehmen es mit solchen Traditionen allemal auf, lassen sich höchstens im Ausnahmefall mit viel Aufwand, durch Offenbarung ganz besonderer persönlicher Probleme “aus humanitären Gründen“ mal lockern.
Ansonsten hat Mahmud wenig Anlaß und Gelegenheit, sein Erleben von Fremdsein mitzuteilen, seine – aus seiner Kultur und seinen individuellen Erfahrungen herrührende – Wahrnehmung dieser Gesellschaft zu äußern und ihr seine eigenen Erfahrungen entgegenzusetzen.
Seine häufigen – meist erfolglosen – Einladungen an Deutsche, sie möchten doch ihn und seine Familie zum Essen besuchen, können wir als Ausdruck iranischer Gastfreundschaft verstehen. Wir können sie gleichzeitig verstehen als Wunsch, mehr zu erfahren über das Land, in dem er jetzt lebt und mehr mitteilen zu können über sein eigenes Land und seine Erfahrungen und Erwartungen.
Wie die meisten Flüchtlinge muß er die Auseinandersetzung mit der deutschen Kultur und Gesellschaft mit sich selber abmachen. Ins Blickfeld der Deutschen gerät dieser Prozeß entweder nur, wenn iranische Kultur als Folklore gefragt ist oder wenn er die Spannung zwischen diesen beiden Polen nicht mehr aushält und krank oder sonstwie auffällig wird.